Wir wol­len mit­re­den

Wir wollen mitreden - Die Veranstaltung

Menschen mit Demenz treten aus dem Schatten

Menschen mit Demenz treten aus dem Schatten

Der Film zur Veranstaltung

Die Veranstaltung "Wir wollen mitreden!" wurde filmisch dokumentiert.
Den Film zur Veranstaltung finden Sie hier: » Details

15. April 2011 - 13.00 bis 17.00 Uhr

Saalbau Gallus
Frankenallee 111
60326 Frankfurt/Main

Logo der Hans und Ilse Breuer Stiftung

Die Veranstaltung "Wir wollen mitreden"
wird gefördert von der Hans und Ilse Breuer-Stiftung.


Die Idee

Die Idee hinter der Veranstaltung "Wir wollen mitreden!"

„Es wird viel über Menschen mit Demenz gesprochen, aber wenig mit ihnen. Allzu leicht wird vergessen, dass Menschen mit Demenz sehr wohl eine Meinung haben und diese oftmals auch äußern können.“
So hatten wir es vor einem Jahr in der Einladung zu der Veranstaltung „Stimmig“ (Anfang 2010 in Stuttgart) formuliert. Seitdem ist einiges geschehen. Ermutigt vom Aufbruchsgeist der Konferenz melden sich immer mehr Demenzbetroffene zu Wort. Sie berichten in Magazinen und in anderen Medien, sprechen auf öffentlichen Veranstaltungen und vor allem im direkten sozialen Umfeld über das, was sie bewegt. Dass Menschen mit Demenz sich in eigener Sache artikulieren, vermag gesellschaftliche Vorurteile zu erschüttern und macht anderen Betroffenen Mut.
Trotz dieser erfreulichen Entwicklung stehen wir noch am Anfang eines längeren Weges, an dessen Ende die Selbstartikulation von Betroffenen als Normalität und die volle gesellschaftliche Teilhabe von Menschen mit Demenz stehen muss.
Am 15. April 2011 wollen wir einen weiteren Schritt auf diesem Weg gehen. Vier Menschen, die als Alzheimer- oder Demenzbetroffene aus dem Schatten getreten sind und sich öffentlich für die Belange von Menschen mit Demenz engagieren, suchen das Gespräch mit anderen Bürgerinnen und Bürgern, mit pflegenden Angehörigen und beruflich Pflegenden sowie mit Verantwortlichen aus den Gemeinden.
Sie berichten aus erster Hand über das Leben mit Demenz und über ihre Wünsche und Forderungen an die Umwelt.
Zwei Fragen werden bei den Berichten unserer Referenten im Mittelpunkt stehen:

  1. Was geschieht, wenn Menschen das Schweigen durchbrechen und offen über ihr Leben mit Alzheimer oder Demenz sprechen?
  2. Was wünschen sich und fordern Betroffene von ihrem Umfeld, damit sie sich weiter als Teil der Gesellschaft erfahren können?

Akteure

Christine Bryden (Australien)

Demenzbetroffene, Autorin des Buches "Mein Tanz mit der Demenz"

Christine BrydenChristine Bryden trifft der «Fluch des Zeigefingers Demenzdiagnose» mit 46 Jahren. Sie arbeitet zu diesem Zeitpunkt als erfolgreiche Führungsperson im australischen Premierministerium. Ihre zwei Töchter erzieht sie allein.
Die Diagnose Demenz wird für sie zu einem Tanz auf einem Vulkan, der sie schockiert, ängstigt, verzweifelt und depressiv werden lässt. Eine emotionale Achterbahnfahrt, die sie in «Dancing with Dementia» beschreibt. – Doch mutig und charismatisch, mit spitzer Feder schreibend und mit Hilfe ihres Mannes Paul trotzt sie der Demenz und ringt ihr ein aktives und autonomes Leben ab. Mehr als das, sie wird zur führenden Demenz-Aktivistin und einer treibenden Kraft der Demenz-Selbsthilfebewegung im englischsprachigen Raum. Sie gibt stellvertretend Menschen mit Demenz eine Stimme, meldet sich zu Wort und kämpft erfolgreich gegen Widerstände für die Interessen von Menschen mit einer Demenz. Mit ihrem Buch und ihrer positiven Lebenseinstellung unterstützt sie viele Menschen mit Demenz, stärkt ihre Autonomie, Kompetenzen und Selbstachtung.
Angehörigen und professionell Tätigen vermittelt sie, wie Betroffene positiv mit der Krankheit leben, und wie sie gut und individuell unterstützt werden können. Dem Zerrbild «Demenz» hält sie ein realistisches Bild entgegen ohne die Einschränkungen, welche die Erkrankung mit sich bringt, und die Abhängigkeit von Familienangehörigen und Betreuenden in ihrer Wichtigkeit, auszuklammern. Sie mindert damit glaubhaft soziale Ängste gegenüber der Demenz und ermöglicht es, Menschen mit einer Demenz offener, verständnisvoller und flexibler zu begegnen.
Christine Bryden zeigt, wie sie mit der Demenz tanzt, ohne sich aus dem Rhythmus und dem Takt des Lebens bringen zu lassen.
(Quelle: Verlag Hans Huber).


Helga Rohra (Deutschland)

Demenzbetroffene, Dolmetscherin, Autorin des Buches "Aus dem Schatten treten" - warum ich mich für unsere Rechte als Demenzbetroffene einsetze"

Helga RohraMit 54 Jahren wurde Helga Rohra die Diagnose Lewy-Body-Demenz gestellt. Sie stürzte in eine Depression. Als sie Anfang2010 erstmals öffentlich über ihre Demenz sprach, geschah das noch unter dem Pseudonym „Helen Merlin“. Seitdem ist viel passiert: Helga Rohra wurde zu einer Aktivistin, die sich einmischt, um die Sache der Menschen mit Demenz zu vertreten: Im Vorstand der Alzheimer Gesellschaft München, auf Fachkongressen und in den Medien. Regelmäßig schreibt sie für demenz.DAS MAGAZIN). Sie hat ausführlich Tagebuch über das letzte Jahr geführt und bereitet mit Unterstützung von Falko Piest (Demenz Support Stuttgart) für diesen Herbst ein Buch über Ihr Leben und Ihre Arbeit vor.
Helga Rohra wendet sich an alle, die aus erster Hand erfahren wollen, welche Hürden Menschen mit Demenz in unserer Gesellschaft überwinden müssen und welche Potenziale noch in ihnen stecken. Ihr Buch ist aber auch eine Einladung an andere Betroffen, sich auszutauschen und gemeinsam die Stimme zu erheben, für eine wirkliche Teilhabe von Menschen mit Demenz.
„Ich bin dement, na und?“ ist ihr Motto, wenn sie von ihren Erlebnissen mit Nicht-Dementen berichtet. Da sind etwa die Psychiater, die öffentlich bezweifeln, dass sie unter einer Demenz leidet. Oder die Angehörigen sozialer Berufe, die sich im Umgang mit ihr überfordert fühlen. Und die Nachbarn und Freunde, die hilflos stammeln: „Du Arme, bist Du jetzt auch dement!“ Mit Scharfsinn und einer gehörigen Portion Humor hält Helga Rohra der Gesellschaft den Spiegel vor. Sie zeigt, wie unbeholfen wir Menschen mit Demenz gegenübertreten. Und wie wenig wir ihnen dabei gerecht werden.


Richard Taylor (USA)

Alzheimerbetroffener und -aktivist, Autor des Buches "Alzheimer und Ich"

Richard TaylorIm Jahr 2001 erhielt der Psychologe Dr. Richard Taylor, damals 58 Jahre alt, die Diagnose "Demenz, vermutlich vom Alzheimer-Typ". Wenig später begann er damit, täglich fünf bis sechs Sunden zu schreiben, um sich und was mit ihm vorging besser zu verstehen. Mittlerweile schreibt er auch, um auf die Lage von Alzheimerbetroffenen aufmerksam zu machen. Richard Taylor, der sich selbst als Alzheimer-Aktivist bezeichnet, ist ein leidenschaftlicher Fürsprecher von Menschen mit Demenz. Er war eine der treibenden Kräfte bei der Einrichtung des Beirats der US-Amerikanischen Alzheimer-Gesellschaft. Heute arbeitet er in einem ähnlichen Gremium der Amerikanischen Alzheimer-Stiftung mit. Dort befasst er sich mit der Frage, wie Betroffene besser in Leitung, Programmentwicklung und Dienstleistungsangebote der Stiftung eingebun-den werden können. Außerdem ist er ein gefragter Redner bei Fachkonferenzen. Er wendet sich wortgewandt an Personen, die professionell auf dem Feld der Demenz arbeiten, wie auch an pflegende Ange-hörige. Nachdenklich und durchdacht versucht er zu erklären, was Menschen mit Demenz durch den Kopf geht.
Mit seinem auf Deutsch erschienenen Buch "Alzheimer und Ich: Leben mit Dr. Alzheimer im Kopf", veröffentlichte Richard Taylor eine Sammlung von Essays, die er seit seiner Diagnose verfasst hat. Auf eine unnachahmliche Art bringt er in seinen Texten, wie auch in seinen Re-den, das Erleben der Menschen mit Demenz auf den Punkt.
Richard Taylor ist Mitglied im Kompetenzteams des deutschsprachigen demenz.DAS MAGAZIN.


Christian Zimmermann (Deutschland)

Demenzbetroffener, Unternehmer, Autor des Buchs „Auf dem Weg mit Alzheimer - Wie sich mit einer Demenz leben lässt“

Christian ZimmermannDer 60jährige Christian Zimmermann lebt mit seiner Familie in München. Nachdem 2007 bei ihm eine Alzheimerdemenz diagnostiziert wurde, zog sich der Unternehmer aus der gemeinsam mit seiner Frau gegründeten Firma zurück. Diese wird nun von seiner Tochter und seiner Frau weitergeführt.
Sein neuer Begleiter, Herr Alzheimer, wie ihn Christian Zimmermann nennt, hat ihn zu neuen Aktivitäten gebracht. So hat er beispielsweise mit dem Malen begonnen. Überall in seiner Wohnung kann man seine Werke betrachten, aber nicht nur dort. Eine seiner Arbeiten war auf dem Cover der ersten Ausgabe des Magazins demenz zu sehen und ebenso wie Arbeiten von Jörg Immendorf und vielen anderen Künstlern sind auch Arbeiten von ihm Teil der Ausstellung „Trotzdemenz“, die von der Stiftung DIADEM organisiert wurde. Und: In einem kleinen Münchener Hinterhoftheater in Schwabing steht Christian Zimmermann gemeinsam mit anderen Menschen regelmäßig auf der Bühne und probt kleine Stücke.
Der Münchener möchte anderen von Gehirnalterung betroffenen Menschen ein Beispiel dafür geben, wie man mit der Alzheimerdemenz umgehen und sie in sein Leben integrieren kann. Mittlerweile ist er auf zahlreichen Veranstaltungen aufgetreten, hat Interviews gegeben und ist in dem Buch „Ich spreche für mich selbst. Menschen mit Demenz ergreifen das Wort“ vertreten. Christian Zimmermann ist Mitglied des Kompetenzteams von demenz.DAS MAGAZIN. Einer seiner Leitsätze lautet: „Man kann doch nicht einfach nur rum sitzen und heulen, man muss sein Leben doch annehmen und leben, wie es ist!“ Zurzeit arbeitet er gemeinsam mit Peter Wißmann (Demenz Support Stuttgart) an einem Buch, das anderen Betroffenen Mut machen und ihnen Hilfestellungen geben will. „Wer kann denn besser Auskunft über das Leben mit Alzheimer geben, als jemand, der tatsächlich damit lebt? fragt der Münchener.


Veranstalter

"Wir wollen mitreden!" wurde veranstaltet von:

Logo Demenz Support Stuttgart

Im Zentrum der Arbeit von Demenz Support Stuttgart – Zentrum für Informationstransfer stehen zwei Anliegen:

• Die Verbesserung der Lebensqualität von Menschen mit Demenz
• sowie die Ermöglichung sozialer, kultureller und gesellschaftlicher Teilhabe.

Schon früh hat sich die DeSS gegen eine einseitige biomedizinische Sicht auf das Phänomen Demenz gewandt und dieses als soziale Thematik adressiert. Deshalb beschäftigt sich das Arbeitsfeld „Teilhabe und Gesellschaft“ u.a. mit folgenden Fragen: Was bedeutet Demenz für die Betroffenen und wie muss ein Gemeinwesen beschaffen sein, in dem Menschen mit Demenz und ihre Kümmerer ein gutes Leben führen und sich als Teil der Gemeinschaft erfahren können?

Aus dem Engagement für ein "demenzfreundliches" Gemeinwesen erwuchs die Erkenntnis, dass ein solches sich nur dann erreichen lässt, wenn auch den betroffenen Menschen selbst Möglichkeiten der Artikulation und des aktiven Einbringens offen stehen. Mit Veranstaltungen wie „Stimmig“ und weiteren Aktivitäten – Buchprojekten mit Betroffenen, Filmen, Forschungsprojekten – wurde und wird der Ansatz der Selbstartikulation und der Selbsthilfe von Menschen mit Demenz weiter vorangetrieben.

Bürgerinstitut Frankfurt

Das Bürgerinstitut ist eine Frankfurter Einrichtung, die es schon über 110 Jahre gibt. Die Schwerpunkte liegen in der Arbeit für und mit älteren Menschen. Es werden aber auch Jüngeren sinnvolle Wege gezeigt, wie sie sich aktiv für soziale Belange einsetzen können. Mehr als 300 Ehrenamtliche sind in den Projekten und Arbeitsbereichen des Bürgerinstituts tätig. Die in den Besuchs- und Betreuungsdiensten freiwillig tätigen Frauen und Männer sind alle gründlich auf ihr Einsatzgebiet vorbereitet worden und werden intensiv begleitet. Das Bürgerinstitut bietet Fortbildungen, Erfahrungsaustausch und Einzelgespräche an. Die hauptamtlichen Mitarbeiter/innen haben alle eine einschlägige Berufsausbildung und -erfahrung.

Der Arbeitsbereich HILDA (Hilfe für Demenzkranke und ihre Angehörigen) besteht seit 1998 im Bürgerinstitut und begleitet, Menschen mit Demenz und ihre Angehörigen. Ein Ziel ist es, eine positive Öffentlichkeit für Menschen mit Demenz herzustellen.

Das Bürgerinstitut ist Mitglied im Paritätischen Wohlfahrtsverband Hessen.
www.buergerinstitut-ffm.de

Mabuse-Verlag

Die Bücher des Mabuse-Verlages und die Zeitschrift Dr. med. Mabuse sind einer sozialen und humanen Medizin und Pflege verpflichtet. Sie wenden sich nicht nur an Fachkräfte im Gesundheitswesen, sondern sollen allen Interessierten Zugang zum Thema ermöglichen. Der schwierige, aber notwendige Dialog zwischen den Berufsgruppen liegt dem Verlag besonders am Herzen.

Der Mabuse-Verlag veröffentlicht unter anderem Bücher zu folgenden Themen:
• Kranken- und Altenpflege
• Menschen mit Behinderung
• Demenz
• Gesundheit und Politik
• Medizingeschichte
• Pflege
• Psychiatrie
• Schwangerschaft und Geburt

Der Mabuse-Verlag ist unabhängig und erhält kein Geld von Verlagskonzernen, Kirchen, politischen Institutionen oder der Industrie. Seit 2007 kooperiert er mit der Demenz Support Stuttgart im Rahmen einer Publikationsreihe (Bücher und audiovisuelle Medien).

www.mabuse-verlag.de


Programm

13.00 - 14.00 Uhr

Ankommen - Einstimmen - Wachwerden

  • Gespräche, Kontakte, Informationen
  • Medieninsel mit Büchern, Magazinen und DVD zum Thema der Veranstaltung
  • Kaffee und andere Getränke

14.00 – 17.00 Uhr

Zuhören - Lernen - Inspiration

  • Grußwort von Roland Bergfeld
    (Vorstand der Hans und Ilse Breuer Stiftung)
  • Vortrag von Richard Taylor
  • Gesprächsrunden mit Christine Bryden, Christian Zimmermann, Helga Rohra und Richard Taylor.
    Zu den Fragen:
    1. Was geschieht, wenn Menschen das Schweigen durchbrechen und offen über ihr Leben mit einer Demenz sprechen?
    2. Was wünschen sich und fordern Betroffene von ihrem Umfeld, damit sie sich weiter als Teil der Gesellschaft erfahren können?
  • Sprachliche und musikalische Intermezzi.

Die englischsprachigen Beiträge wurden übersetzt.


Nachlese

Stimmungsbild zur Veranstaltung in Frankfurt

Nachlese wir wollen mitreden

250 Menschen aus allen Teilen Deutschlands waren der Einladung der Demenz Support Stuttgart, des Bürgerinstituts Frankfurt und des Mabuse-Verlages in den Frankfurter Gallus Bau gefolgt, um zu erfahren, was ihnen vier Menschen zu sagen hatten, die alle seit geraumer Zeit mit einer Demenz leben: so Christine Bryden aus Australien, bei der bereits 1995 die Diagnose Demenz gestellt wurde. Die erfolgreiche „Karrierefrau“ und alleinerziehende Mutter dreier Töchter begann nach der Diagnose noch ein Studium, schrieb ein Buch – und verliebte sich neu. In Paul Bryden, einem ehemaligen Diplomaten, fand Christine einen Seelenverwandten und neuen Partner, den die Diagnose Demenz nicht davon abhalten konnte, mit ihr den Bund des Lebens einzugehen. Auf großes Interesse stießen Christines Ausführungen, dass es in Australien mittlerweile normal sei, mit jüngeren Demenzbetroffenen, die noch im Berufsleben stünden, betriebliche Strategien für eine weitere Beschäftigung zu entwickeln.

Das Thema Berufsleben beschäftigt auch Helga Rohra nach wie vor, deren Laufbahn als gefragte Dolmetscherin von der Diagnose Demenz jäh beendet wurde. Ihre Erfahrungen mit der Situation hierzulande waren leider nicht so positiv. Für Rohra ergibt sich hieraus das Erfordernis und die Verpflichtung, von diesen und von weiteren vorbildhaften Aktivitäten in anderen Ländern zu lernen. Auch gäbe es andernorts bereits Beratungsangebote von Alzheimerbetroffenen für andere Alzheimerbetroffene. Wer sich einmal in die Lage eigener Betroffenheit versetzt und vorhandene Informationsmaterialien und Ratgeberliteratur über Alzheimer aus dieser Warte studiert hat, wird Rohras Kritik gut nachvollziehen können.

Christian Zimmermann hat seinen Lebensabschnitt als erfolgreicher Geschäftsmann vor geraumer Zeit ohne Bedauern abschließen können und eine zweite Karriere als Kunstinteressierter und künstlerisch Tätiger im Unruhestand begonnen. Sein Wunsch ist, normal weiter leben zu können. Den Anwesenden schrieb er ins Hausaufgabenheft, sie sollten ebenfalls „ganz normal“ mit Alzheimerbetroffenen wie ihm umzugehen. Als besonderen Rat gab er Menschen in einer Situation wie der seinen mit auf den Weg, möglichst offen mit ihrer Diagnose umzugehen. Fast immer sei das Ergebnis dann Verständnis und Unterstützung der anderen.

„Steht auf und sprecht darüber, dass ihr Alzheimer habt“, ermunterte Richard Taylor aus den USA die Betroffenen. Dazu müsse man keine Reden halten, im Fernsehen auftreten oder ein Buch schreiben – wie dies die vier Aktivisten auf der Bühne in Frankfurt regelmäßig tun. “Sprecht über eure Beeinträchtigung, wenn es passend erscheint. Lebt euer Leben in vollen Zügen. Bittet um Unterstützung wenn ihr sie haben möchtet“.

Man erinnere sich: vor nicht einmal zwanzig Jahren traten Angehörige von Menschen mit Demenz an, um sich das Recht auf Mitsprache in Sachen Versorgung ihrer von einer Demenz betroffenen Familienmitglieder zu erkämpfen. Heute sitzen ihre Vertreterinnen und Vertreter ganz selbstverständlich als Experten überall dort mit am Tisch, wo über das Thema Demenz beraten und entschieden wird.

„Nicht ohne uns, wenn es um uns geht“ – mit dieser Forderung traten um das Jahr 2001 die ersten Pioniere für die Selbstvertretung von Menschen mit Demenz international ins Licht der Öffentlichkeit. Auch wenn etablierte Einstellungen und Denkweisen sich hier und dort noch daran reiben mögen – inzwischen ergreifen Menschen mit Demenz auch hierzulande das Wort in eigener Sache und mischen sich ein. Und auch wenn es gewiss noch manches an Mühen, Beharrlichkeit und Zeit brauchen wird, bis sie ganz selbstverständlich überall dort mitreden können, wo es um ihr Leben und ihre Belange geht: der Weg ist eingeschlagen, der Prozess unumkehrbar – und das ist gut so!!!


Statement Richard Taylor

Statement Richard Taylor

Hallo, ich bin Richard Taylor. Ich lebe in Houston, Texas, in den Vereinigten Staaten von Amerika. Die vergangenen zehn Jahren habe ich mit der Diagnose Demenz, wahrscheinlich vom Typ Alzheimer, gelebt. So jedenfalls hat mir das ein Arzt vor zehn Jahren gesagt. Und obwohl weder meine Frau, noch mein Bruder oder ich selbst uns bis heute daran erinnern können, was er außer diesen lebensverändernden Worten noch gesagt hat, bin ich doch ziemlich sicher, dass er nicht erzählt hat, dass seine Worte für mich den Beginn des langen Lebewohls markieren würden. Ich bin auch ziemlich sicher, dass er nicht gesagt hat, dass die Alzheimerkrankheit mir die Seele rauben wird. Ich bin ziemlich sicher, er hat nicht gesagt, dass ich zwei Mal sterben werde. Ich bin ziemlich sicher, er hat nicht gesagt, dass ich zur Hülle meines früheren Selbst werde, wenn ich mich dem Ende meines Lebens nähere. Ich bin mir ziemlich sicher, er hat nicht gesagt, ich würde mich in eine Schildkröte verwandeln, die verbrannt und deren Panzer zum Trocknen zurückgelassen wurde, in einem Rollstuhl sicher verwahrt und auf die Winde der Zeit wartend, die meine Hülle in einen Staubhaufen verwandeln, damit sie begraben werden kann.

Und doch stehe ich heute hier vor Ihnen mit all diesen Ängsten, all diesen Mythen, all diesen Stigmata, die alle in einem größeren oder kleineren Maß irgendwo in mir vorhanden sind. Ich komme heute hierher, um zu Ihnen als Mitreisender auf der Straße jenes Lebens zu sprechen, das mit den Symptomen eines abgleitenden und letztendlich versagenden kognitiven Systems angefüllt ist. Viele von Ihnen wissen wie ich: wenn jemand eine Person kennt, die mit Demenz lebt und diese Person ist nicht ich, dann kennt dieser jemand mich auch nicht. Jede und jeder von uns ist heute eine genauso einzigartige Person wie an dem Tag, bevor er oder sie die Diagnose Demenz gestellt bekam.

Ich bin keineswegs die Stimme der Demenz. Ich bin nicht einmal eine Stimme der Demenz. Da meine Symptome sich von Tag zu Tag verändern, und mitunter auch von Augenblick zu Augenblick, kann ich nicht für mich den Anspruch erheben, dass meine Stimme jeden Tag die gleiche ist. Offen gesagt gibt es Millionen Stimmen der Demenz. Alle verdienen gleichermaßen, gehört zu werden.

Während ich herumreise und mit Menschen spreche, die mit den Symptomen einer Demenz leben und mir ihre Erfahrungen anhöre, habe ich tausende einzigartiger Individuen kennengelernt. Es stimmt schon: Wenn Sie einen Menschen mit Demenz kennen, dann ist das alles, was Sie über Demenz wissen. Man weiß niemals alles über jeden. Und man weiß ganz sicher niemals alles über Demenz.

Allerdings gibt es ein Faktum, das auf alle Pflegenden, Professionellen und Organisationen zutrifft, die den Anspruch erheben, die Bedürfnisse und Nöte derjenigen zu vertreten, die mit den Symptomen einer Demenz leben: Keine und keiner von ihnen verfügt über die Erfahrung, wie es ist, mit Demenz zu leben. Keiner von ihnen lebt jeden Tag damit und versucht, mit den Symptomen einer Demenz zurecht zu kommen. Obwohl den meisten dieser Menschen unser Bestes am Herzen liegt und sie gewiss wohlmeinend sind, können sie einfach nicht ermessen, wie es wirklich ist, mit Demenz zu leben. Und doch bereitet es vielen von ihnen keinerlei Unbehagen, einem Menschen den Stempel „Stadium eins“ oder drei oder dreihundert aufzudrücken. Viele dieser Personen behaupten, genau zu wissen, wo und wie wir leben sollten, was wir für uns tun können und welches die Gefahren in unserem Leben sind. Sehen Sie zu, dass Ihr Leben möglichst einförmig und vollkommen vorhersehbar ist – so sagen sie. Wenn wir einmal etwas nicht hinkriegen, dann bitten sie uns nie wieder, es zu versuchen. Sie sagen Lebewohl zu uns statt Hallo.

Lassen Sie es mich nochmals sagen: Ich glaube, wenn Sie eine Person kennen, die mit den Symptomen einer Demenz lebt, dann kennen Sie lediglich eine Person mit Demenz. Wenn Sie eine medizinische Klinik leiten und dort täglich zehn Menschen mit irgendeiner Form von Demenz diagnostizieren, dann kennen Sie am Ende eines jeden Tages nur jene zehn Menschen. Wir sind alle einzigartige, unverwechselbare menschliche Wesen. Und diese Einzigartigkeit verschwindet nicht einfach, weil wir mit den Symptomen einer Demenz leben.

So stehe ich also hier. Ich bin Richard und ich lebe mit den Symptomen einer Demenz. Wie die meisten von Ihnen bereits wissen, braucht einem der Arzt all diese Mythen über Demenz nicht zu erzählen. Unsere Freunde und selbst diejenigen, die wir lieben, erzählen sie uns mit ihren Augen und ihren Tränen. Sie erzählen sie uns mit ihren Umarmungen, die keine Gesten des „Tschüs, wir sehen uns“ sind. Vielmehr sind es Umarmungen, die wir jemandem zukommen lassen, von dem wir erwarten, dass er bald sterben wird.

Jede neue Pressemitteilung über eine neue Entdeckung irgendeiner Form von Demenz erinnert uns daran, welch eine Belastung wir für unsere Gesellschaft sind. Sie stellt eine Rechnung darüber aus, was unsere Pflege die Regierung kostet, was sie diejenigen kostet, die wir lieben und schließlich auch, was es uns selbst kostet. Manchmal macht dies Menschen, die keine Demenz haben, Angst, so dass sie Geld stiften, um eine Heilmöglichkeit zu finden – sehr viel mehr Geld für Forschung nach Heilungsmöglichkeiten und weitaus weniger an Geld für Forschung, die danach fragt, wie man die alltäglichen psychosozialen Probleme löst, die diejenigen von uns betrifft, die tagtäglich direkt oder indirekt mit den Symptomen einer Demenz ringen. Was wir benötigen sind Sozialzeutika, nicht Pharmazeutika.

Menschen wie euch zu treffen und ihnen zuzuhören hat mir die Möglichkeit gegeben, meine eigene Zukunft zu sehen, meine eigene Gegenwart besser zu verstehen und mir selbst zu bestätigen, was in meiner Vergangenheit geschehen ist: das Weinen, die Angst vor dem Sterben, die Isolation, die Depression, die Furcht – all das ist den meisten Menschen geläufig, zu denen gesagt wird „Sie haben Demenz, wahrscheinlich von diesem oder jenem Typ“.

Für mich steht außer Frage, dass wir das Wort ergreifen müssen. Die Frage ist vielmehr, was wir sagen wollen, denn ich glaube aus ganzem Herzen, dass jeder von uns eine moralische Verpflichtung gegenüber dem anderen hat und auch gegenüber denjenigen, die jetzt nicht einfach das Wort ergreifen können, die aber dennoch Brüder und Schwestern im Geiste sind. Die moralische Verpflichtung, die darin besteht, aufzustehen und das Wort zu ergreifen, gilt auch gegenüber den Millionen anderer Seelenverwandter, die noch folgen werden. Es ist im Interesse von uns allen, die unsichtbaren Verstecke jetzt zu verlassen, die wir für uns gebaut haben und uns mit dem Umstand vertraut zu machen, dass was wir haben eine Behinderung ist und kein Todesurteil. Denn wir werden alle einmal sterben, zum einen oder anderen Zeitpunkt, früher oder später. Der Umstand, dass da jemand in einem weißen Kittel ein paar Worte an Dich richtet, bringt den Tag Deines Todes weder automatisch näher, noch kann es ihn nach hinten verschieben.

Richard Taylor

Ich sage den Leuten, dass ich eine Behinderung habe und nicht, dass ich krank bin. Ich sage ihnen, ich habe eine chronische Behinderung, die nicht geheilt werden kann. Ich stelle eine Ähnlichkeit zur Arthritis her, weil diese Behinderung ebenso wie die Symptome einer Demenz oftmals mit dem Alter verbunden ist. Aber wenn Sie Ihren Freunden sagen würden, Sie hätten Arthritis, selbst wenn es die schwere Form des Gelenkrheumatismus wäre, würde das den Blick auf Sie als menschliches Wesen bei niemandem in irgendeiner Weise verändern. Doch wenn Sie den Leuten sagen – sogar Leuten, die Sie kennen und die Sie lieben – dass Sie Demenz haben, dann beginnen Sie in deren Geist zu entschwinden und Ihre Sicherheit wird plötzlich zu ihrer wichtigsten Sorge in Bezug auf Sie als Person. Was entschwindet sind Überlegungen und das Interesse dafür, was Ihr Sinn im Leben ist und dafür, dass Sie jeden Morgen aufwachen und etwas zu tun haben. Etwas, das Sie wirklich tun wollen. Etwas, das Sie am Abend denken lässt, dass es ein guter Tag war, weil Sie etwas bewerkstelligt haben.

Wir alle brauchen und verdienen das Bedürfnis, uns als Menschen zu fühlen und wir verlieren es niemals. Wir brauchen und verdienen es, ein gutes Gefühl gegenüber uns selbst zu haben und im Heute zu leben – nicht im Gestern.

Und doch sind wir unserer Beeinträchtigung wegen nicht immer so fähig, wie wir es vormals waren, diese Bedürfnisse durch unser eigenes Handeln erfüllt zu bekommen. Wir verdienen und brauchen andere, die uns das Gefühl ermöglichen, dass diesen Bedürfnissen voll und ganz entsprochen wurde.

Leider ist das, was uns mitunter geboten wird, eher eine unabsichtlich behindernde statt eine ermöglichende Unterstützung. Jedes Mal, wenn eine meiner kognitiven Fähigkeiten mich im Stich lässt – wenn ich mich verlaufe, wenn ich konfus werde, wenn die Formulierungsfähigkeit mich im Stich lässt – werden solche registrierten Schwächen von gebildeten, liebenden und wohlmeinenden Menschen dazu benutzt, um mich systematisch der Gelegenheiten zu berauben, meine eigenen Bedürfnisse zu erfüllen.

Wir können nicht mehr sicher Autofahren. Wir können nicht mehr verlässlich Geld mit uns herumtragen. Man kann uns nicht alleine lassen. Wir müssen in einem Sessel sitzen, weil die Angst besteht, dass wir fallen könnten. Die Liste lässt sich beliebig fortsetzen, bis wir uns schließlich aufgeben und still dasitzen, stumm gegenüber der Außenwelt, doch keineswegs gegenüber unserer Innenwelt.

Und deshalb sage ich einem jeden von euch, um eures eigenen Selbstbildes wegen: Bitte steht auf und äußert euch! Das bedeutet nicht, dass jeder von euch unbedingt eine Rede halten oder im Fernsehen auftreten oder ein Buch schreiben muss. Aber sprecht über eure Beeinträchtigung, wenn es geboten erscheint. Lebt euer Leben voll und ganz. Bittet um Hilfe, wenn ihr denkt, dass ihr sie braucht oder wollt. Dankt anderen höflich, wenn sie euch unerwünschte Hilfe anbieten. Die anderen wissen nicht, was sie tun müssen, wenn sie eines eurer Symptome aus eurem Mund springen sehen.

Mit zunehmend gravierenderen Symptomen einer Demenz zu leben lässt unser Bedürfnis nicht versiegen, Liebe zu geben und zu empfangen, uns selbst und unser Umfeld zu verstehen und unser Leben in der Hand zu haben. Es verringert nicht unser Bedürfnis, in Kontakt zu bleiben. Unser Gehirn macht es für uns womöglich schwieriger, diesen Bedürfnissen nachzukommen, aber genau da können unsere Sorge tragenden Partner und Profis einspringen und uns unterstützen. Sie können uns befähigen statt uns zu behindern. Und in manchen Fällen, wo man uns zu lange behindert hat, müssen wir erneut befähigt werden.

Lassen Sie mich nun zum Heute, zu diesem Augenblick zurückkommen: Ich spende den Fortschritten Beifall, die Sie derzeit bei der Erschaffung solcher Partnerschaften in diesem großartigen Land machen. Ich möchte Sie alle bitten, aufzustehen und sich zu äußern. Erzählt anderen, wie es ist, mit euren Symptomen zu leben. Pflegende Angehörige, stehen Sie auf und erzählen Sie anderen, wie es ist, mit einer Person zusammen zu leben, die mit den Symptomen lebt. Wir müssen uns alle gegenseitig als durch und durch menschlich ehren. Wir müssen alle die Bemühungen derjenigen unterstützen, die sich nicht vollständig selbst dabei helfen können, ein volles und erfülltes Leben zu führen. Wir müssen alle damit aufhören, uns gegenseitig daran zu messen, wie voll oder leer wir zu sein scheinen. Mir scheint, die Frage, ob ich „halb voll“ oder „halb leer“ bin, ist die falsche Frage. Ich bin Richard und werde immer Richard sein, jemand, der versucht, mit den Symptomen einer Demenz ein vollständiges Leben zu führen. Ich danke Ihnen, dass Sie mir die Gelegenheit gegeben haben, mit Ihnen zu sprechen und den anderen Stimmen der Demenz zuzuhören.

Frankfurt, Deutschland, 15. April 2011

Richard Taylor


Statement Christine Bryden

Statement von Christine Bryden

Ich bin Christine Bryden. Bei mir wurde 1995 die Diagnose Demenz gestellt, da war ich 46 Jahre alt. Jetzt mit 62 bin ich jemand, der seine Reise mit Demenz seit 16 Jahren überlebt hat. In dieser Zeit allmählichen, aber kontinuierlichen Rückgangs bin ich auf Tagungen und in den Medien auf der ganzen Welt aufgetreten. Und ich habe zwei Bücher geschrieben. Ich hatte mir zum Ziel gesetzt zu beschreiben, wie es sich anfühlt, eine Demenz zu haben und was die anderen tun können, um zu helfen. Das wichtigste ist jedoch, dass ich seither eine leidenschaftliche Anwältin für das Recht von Menschen mit Demenz gewesen bin – für das Recht, an der Gesellschaft teilzuhaben, seine Meinung zu sagen, aus dem Schatten zu treten und ein Teil des Gemeinwesens zu sein. Zentral ist dabei vor allem, dass man uns, die wir mit einer Demenz leben, zuhört, wo es um die Gestaltung von Unterstützungsangeboten und Dienstleistungen geht, die wir und unsere Familien auf unserer Reise von der Diagnose bis zu unserem Tod benötigen. Denn bis eine Heilung für die unterschiedlichen Erkrankungen gefunden wird, die eine Demenz verursachen, wird dies am Ende stehen.

Wie habe ich nun den Mut gefunden, das Wort zu ergreifen und gehört zu werden, als ich 2001 als erste Person mit Demenz den Hauptvortrag auf der internationalen ADI Konferenz in Neuseeland hielt?

Statement von Christine BrydenIch hatte im Internet Freunde gefunden, bei denen wie bei mir eine Demenzdiagnose gestellt worden war und die aktiv werden und etwas bewirken wollten. Gemeinsam haben wir das DASNI Netzwerk gegründet – DASNI steht für Dementia Advocacy and Support Network International. Wir nahmen Kontakt zu ADI (Alzheimer Disease International, dem internationalen Zusammenschluss nationaler Alzheimer Gesellschaften, Anm. d. Ü.) auf und baten um Unterstützung für unser Projekt, aus dem Schatten zu treten. Seither hat sich so vieles verändert – Menschen mit Demenz wie beispielsweise Richard sind in ihren Ländern auf Konferenzen aufgetreten. Und man hört uns zu. In den Mitgliedsländern von ADI verbessern sich die Unterstützungsangebote und Dienstleistungen und Menschen mit Demenz werden als Personen geachtet, denen Respekt und Würde gebührt. Durch unser gemeinsames Handeln hat DASNI eine Wirkung entfaltet.

Das DASNI-LOGO versinnbildlicht, dass wir, was unsere kognitiven Fähigkeiten angeht, vielleicht langsam wie Schildkröten sind, dass wir aber Flügel besitzen, so dass wir uns aufschwingen und den Globus mit unseren individuellen und kollektiven Stärken überziehen können. Das Vergissmeinnicht erinnert an unsere geteilten Erfahrungen in Bezug auf Gedächtniseinbußen und unseren Wunsch, nicht vergessen zu werden. Aber kann jemand, der in der Öffentlichkeit das Wort ergreift, überhaupt von einer Demenz betroffen sein? Sollten wir Menschen mit Demenz nicht dem Stereotyp entsprechen, das im ADI Jahresbericht von 2001 zitiert wird: „Der Geist ist abwesend und der Körper ist eine leere Hülle?“

Wir sind viel mehr als erkrankte Gehirne. Jede und jeder von uns hat eine einzigartige, unverwechselbare Persönlichkeit mit Gefühlen, Erfahrungen und einem Platz in der sozialen Welt. Wir haben auf unsere psychischen Ressourcen zurückgegriffen, um mit unserer Hirnschädigung und den Schwierigkeiten zurechtzukommen, die wir im Alltagsleben erfahren. Diese Ressourcen haben wir zum Zeitpunkt der Diagnosestellung am dringendsten gebraucht. Ich selbst habe auf das Trauma der Diagnose zuerst so reagiert, dass ich die n geglaubt habe, die über Demenz erzählt werden – nämlich dass ich von nun an immer weiter abbauen würde und es keine Hoffnung gibt. Es ist mir gelungen, diese Lügen bei Seite zu schieben und weithin akzeptiertes Wissen in Frage zu stellen. Ich habe die Depression niedergerungen, um in Würde und freudiger Erwartung für heute und morgen zu leben.

Wie meine Freunde im DASNI Netzwerk bin ich in der Lage, auf ein halb volles Glas eines mit einer positiven Einstellung gelebten Lebens mit Demenz zu schauen. Der nunmehr überwundene, der Vergangenheit angehörende Blick auf Demenz, der das halb leere Glas fokussiert, hat sich in einem Rahmen entwickelt, in dem erst nach jahrelangen Gedächtniseinbußen und Verwirrtheit eine Diagnose gestellt wurde, in dem keinerlei Anti-Dementiva verfügbar waren und in dem es auch keine Unterstützungsgruppen gab – weder im Direktkontakt noch im Internet – in denen wir einander hätten Mut zusprechen können. Mit einer früheren Diagnosestellung und einer frühzeitigen Behandlung können wir Menschen mit Demenz auf einer weitaus höheren Ebene funktionieren, als man vormals für möglich gehalten hätte. Wir können andere treffen, die sind wie wir und mit denen wir über unsere gemeinsamen Schwächen lachen, unsere Verzweiflung teilen und uns gegenseitig mit hilfreichen Tipps Mut machen können.

Die ersten Anzeichen zeigen sich oftmals in Zeiten von Stress. Während wir das Grollen der Katastrophe spüren, beginnt unsere Welt zu zerbröckeln. Wir verlegen uns mehr und mehr auf Vermeidungsstrategien und erlauben anderen – gewöhnlich unseren Familien – unser Funktionieren zu übernehmen. Das geht oftmals bis zu einem Punkt, wo wir „vergessen“, wie wir Dinge selbst machen können – wir riskieren, alles durch erlernte Hilflosigkeit zu verlieren und vergessen die Maxime „Use it or lose it, benutze es, sonst geht es verloren“.

Und dann stehen wir dem toxischen Moment der Diagnose gegenüber. Wir glauben an medizinische Diagnosen und Progonosen wie die Aborigines an kuru, den Fluch des auf den Knochen Weisens. Der Glaube an einen stetig abwärts führenden Verfall, der zu einer leeren Hülle führt, wird so zu einer sich selbst erfüllenden Prophezeiung! Wir durchleben schieres Grauen und Furcht, wenn es den Anschein hat, als sei unsere Welt an ihrem Ende angelangt. Wir fürchten weitere Verluste und haben Angst vor dem, was die Zukunft für uns bereit hält.

Ich habe nicht gewusst, welche Funktion ich als nächstes einbüßen würde und jeder Fehler, der mir unterlief, wurde zum Zeichen irreversiblen Abbaus. Ich wurde nicht mehr respektiert. Am Tag vor der Diagnose war ich eine höhere Beamtin in einer Bundesverwaltungsbehörde. Am Tag danach war ich zu einem Etikett geworden – dem Etikett Demenz. Wie von meinen Freunden bei DASNI hat man auch von mir erwartet, dass ich mich von der Bühne der Welt zurückziehe und mir nur noch die allerkleinsten Statistenrollen zuweisen lasse.

Mir kam es so vor, als ob man mir von diesem Zeitpunkt an nur noch unter Aufsicht meiner „Pflegeperson“ erlauben würde, mich zu betätigen.

Aber muss das so sein?

Indem wir schreiben und in der Öffentlichkeit auftreten, stellen wir die Ansicht in Frage, dass es Menschen mit Demenz an Einsichtsfähigkeit, Können und Urteilsvermögen mangelt. Aber wir geben nicht auf und wir vertuschen auch nichts. Obwohl wir das Vermögen behalten, in der Öffentlichkeit aufzutreten und zu sprechen, indem wir sorgfältig vorbereitete Notizen benutzen, sind wir doch offen in Bezug auf die Erkrankungen, die unsere Demenz verursacht und unser Leben so drastisch verändert haben.

Ich persönlich kann keine Örtlichkeiten mehr genießen, wo viel los ist, weil mich Hintergrundgeräusche und -bewegungen schnell erschöpfen. Und man kann mich auch nicht an einem normalen Arbeitsplatz alleine lassen, weil mein Urteil nicht zuverlässig ist und meine Erinnerung noch unzuverlässiger.

Vielleicht denken Sie jetzt, dass Leute wie ich irgendwie falsch diagnostiziert worden sind oder dass die Krankheit uns noch nicht voll erwischt hat, oder dass unsere Fähigkeit, öffentlich Reden zu halten so außerhalb des Gewöhnlichen ist, dass sie für andere Menschen mit Demenz irrelevant ist. Was aber wäre, wenn wir junge Menschen wären, die bei einem Autounfall ein Schädeltrauma erlitten haben und dann ähnlich diffuse Hirnschädigungen aufwiesen? Und angenommen, wir hätten Eltern, die für die besten Rehabilitationsprogramme bezahlen und uns die lebensnotwendige Hoffnung darauf geben würden, dass es für uns möglich ist, zu einem reichen und produktiven Leben zurückzukehren? Dann wäre unsere Erfolg wohl nicht mehr ganz so befremdlich. Doch alles, was man uns gibt, ist eine „Sterbebegleitung im Zeitlupentempo“. Das lehnen wir ab. Wir wollen aus dem Schatten treten und auf positive Weise mit Demenz leben!

Lasst uns die Tür aufstoßen und trotz unserer Einschränkungen aus dem Schatten in eine Welt von mehr und weiteren Möglichkeiten eintreten! Wenn wir nicht mehr in einem Leben als hilflose Opfer oder hoffnungslose Heuchler gefangen sind, können wir eine neue Identität finden und auf positive Weise mit Demenz leben.

Man muss sich nicht dafür schämen, jemand zu sein, der Demenz hat – schämen müsste man sich dafür, dies zu verbergen. Wenn wir weder so tun, als seien wir völlig „normal“, noch uns in die Hilflosigkeit zurückziehen, können wir in eine neue Zukunft schauen. Was wäre, wenn bei uns die Neuroplastizität erhalten bleibt? Was wäre, wenn es uns gelänge, die Rolle des Opfers abzuschütteln?

Wir können therapeutische Aufgaben lösen, in denen ein Versagen unwahrscheinlich ist und durch die wir damit beginnen können, unser erschüttertes Kompetenzgefühl wiederherzustellen. Wir sind in der Lage, Möglichkeiten des Gebens und Sorgetragens zu entdecken, die unser Gefühl für Wert und Sinnhaftigkeit wiederherstellen. Wir können anerkannt und einbezogen werden, indem wir zu den Aktivitäten der Alzheimergesellschaften beitragen und uns an ihnen beteiligen. Wenn wir auf diese Art gestärkt, gewürdig und bestätigt werden, können wir Herausforderungen mit Mut und Würde entgegensehen und diese bewältigen.

Unsere Familien werden so aus der Rolle von Verweigerern oder Pflegenden befreit und können an unserer Seite stehen, während wir entdecken, wer wir sein können.

Wir können einen Auftrag zum Überleben entdecken.

Wir wissen, wie es sich anfühlt, dieses „degenerierende Gefühl des Niemandseins“, das Martin Luther Kings schwarze Mitbürgerinnen und Mitbürger in den USA unterdrückte. Aber wir waren einst auch ebenso „normal“ wie Sie. Wir haben es überlebt, eine Person mit Demenz zu werden und das bedeutet, dass wir unsere Stärke kennen. Unsere Kognition mag nachlassen, doch wir können auf wirkmächtige Ressourcen zurückgreifen – unsere Gefühle und unsere Spiritualität – um mit Ihnen in Beziehung zu treten.

Uns inspiriert Martin Luther King’s Formulierung des Überlebensauftrags seines Volkes: „Wenn ihr mutig, und doch mit Würde und christlicher Liebe euren Protest äußert, dann werden die Verfasser der Geschichtsbücher der Zukunft einen Moment innehalten müssen und sagen: da hat ein großes Volk gelebt – ein schwarzes Volk – das neue Bedeutung und Würde in die Venen der menschlichen Zivilisation injiziert hat.“

Menschen mit Demenz streben ebenfalls danach, ein solches Volk zu sein. Was also ist unsere Vision vom neuen Jahrtausend? Wir erinnern uns an die Zeiten, als Krebs das gefürchtete Wort mit „K“ war und wir sind von denjenigen angeregt, die den Krebs überlebt haben. Wir schauen nach vorn in eine Zukunft, in der das „D“-Wort der Demenz – oder das „A“-Wort Alzheimer seine toxische Macht verloren hat, Opfer zu erzeugen. In dieser neuen Zukunft werden Menschen mit kognitiven Schwierigkeiten sich so früh wie möglich um eine Diagnosestellung bemühen. Es wird eine Zukunft sein, die sich auf Beziehungen konzentriert und in der Medikamente zur Verfügung stehen, die es uns erlauben, auf einem hohen Niveau tätig zu sein. Und es wird eine Zukunft sein, in der es Heilmöglichkeiten für Demenz geben wird!

Von den Menschen mit Demenz inspiriert, denen ich auf der ganzen Welt begegnet bin wie auch von dem Traum einer besseren Zukunft, habe ich mein zweites Buch, „Mein Tanz mit der Demenz“ geschrieben. Es fängt unseren Tanz ein, unsere zögerlich-wankenden Schritte mit unseren Partnern, die für uns Sorge tragen. Es sind Schritte, mit denen wir versuchen, uns der sich verändernden Musik der Demenz anzupassen. Wir können auch mit unseren Einschränkungen strahlen wie die Sterne.

Wir träumen von künftigen Möglichkeiten. Es ist schwieriger für uns – aber nicht unmöglich! Indem wir Bücher schreiben und Vorträge halten und indem wir auf positive Weise mit Demenz leben, sind wir Gefährten auf der Reise zu diesen künftigen Möglichkeiten.

Als Demenzüberlebende ist uns sowohl die Welt der „Normalen“, als auch die der Demenz innig vertraut und wir haben einen außergewöhnlichen Übergang überstanden. Wir möchten, dass Sie uns dabei helfen, unseren Traum zu verwirklichen – den Traum davon, dass es ein Überleben der Demenz in Würde gibt und dass es eines Tages möglich sein wird, Demenz zu heilen. Wir wollen aus dem Schatten treten und mit Ihnen zusammen arbeiten, um unseren Traum zu verwirklichen.

Dankeschön.


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